Richtige Entscheidungen treffen – Der Faktor Mensch in der Patientenversorgung

Richtige Entscheidungen treffen - Der Faktor Mensch in der Patientenversorgung

Der Menschliche Faktor

Irren ist menschlich: In der Medizin wird geschätzt, dass 70 –80 % aller Fehler auf menschliche Ursachen – den Faktor Mensch – zurückzuführen sind. In beiden in nächsten Absatz aufgeführten Fällen finden sich Merkmale typischer menschlicher Fehlentscheidungen. Retrospektiv wären beide Diagnosen durch den Einsatz geeigneter Untersuchungen und vorhandener apparativer Diagnostik leicht zu erkennen gewesen. Doch was sind die Ursachen für solch gravierende Fehlentscheidungen? Die Luftfahrt hat seit den späten 1970er Jahren erkannt, dass die meisten Flugunglücke nicht durch technisches Versagen entstehen, sondern durch menschliche Fehlurteile, respektive fehlerhafte Handlungen. Dennoch wird auch heute noch den Medizinstudierenden und Pflegeschülern fast ausschließlich medizinisches Fachwissen vermittelt. Kompetenzen, um die eigene Fehleranfälligkeit und Risiken für Fehlurteile frühzeitig zu erkennen, sowie richtige Entscheidungen in komplexen Situationen, mit nur wenigen Informationen, zu treffen, werden kaum vermittelt.

1. Fallbeispiel
Verspätete Therapie: Ein 54-jähriger alkoholisierter Patient suchte am Donnerstagabend die Notfallambulanz wegen Nackenbeschwerden und Unwohlsein auf. Als weitere Beschwerden gab er ein Kribbeln im rechten Daumen an. Es fand sich eine Prellmarke an der Stirn und eine etwas eingeschränkte Beweglichkeit der Halswirbelsäule. Er roch stark nach Alkohol, sein Blutalkoholspiegel betrug 1,5 Promille. Der Patient wurde stationär auf die internistische Station aufgenommen. Im Laufe des Wochenendes entwickelte der Patient zunehmend Lähmungen beider Arme. Durch einen hinzugerufenen Neurologen und Unfallchirurgen wurde eine instabile Halswirbelfraktur auf Höhe C6/7 festgestellt. Noch am selbigen Tag wurde die HWS des Patienten osteosynthetisch stabilisiert. Es blieben permanente Lähmungserscheinungen beider Arme.

2. Fallbeispiel
Tödliche Fehldiagnose: Ein 5-jähriges Kind mit Migrationshintergrund verstirbt zuhause, nachdem die Eltern am Abend zuvor die Notaufnahme mit dem Kind aufgesucht hatten. Die Eltern gaben an, dass es mehrmals erbrochen und Bauchschmerzen habe. Es wurde mit Schmerzzäpfchen versorgt und wieder nach Hause entlassen. Als Todesursache wird eine nicht erkannte Blinddarmperforation vermutet, die von der Notaufnahme-Ärztin eines mittelgroßen Krankenhauses nicht erkannt wurde. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen fahrlässiger Tötung. Die Assistenzärztin wurde freigestellt.

Ökonomischer Druck und Ressourcenknappheit

Hauptursachen für Fehler und Regelverstöße liegen in der Verdichtung der Arbeitsprozesse und Zeitknappheit, oftmals ungeregelten Schnittstellen und unklaren Zuständigkeiten zwischen den verschiedenen Fachprofessionen. Überfüllte Notaufnahmen, 10 und mehr Bereitschaftsdienste im Monat, der Mangel an qualifizierten Personal aufgrund Krankheit und Fluktuation verschärfen diese Problematik. Fehlen wichtige diagnostische Ressourcen wie ein 24-Stunden verfügbares CT oder wird der Zugriff auf Patientendaten durch ein umständliches Krankenhaus-Informationssystem erschwert, werden Befunde primär nicht erhoben oder übersehen.

Entscheidungen treffen in Unsicherheit

Über allem medizinischen Handeln schwebt stets das Damoklesschwert der Unsicherheit. Anders als in der Luftfahrt fehlen dem Arzt häufig eindeutige Indikatoren und Parameter, die ihm zweifelsfrei die diagnostische Sicherheit geben, was die Ursache der Patientenbeschwerden betrifft. Differentialdiagnostisches Vorhergehen ist stets angebracht, jedoch ressourcenintensiv und aufgrund fachlicher Subspezialisierung oft nicht umzusetzen. So werden aus verständlichen Gründen der Ökonomie Entscheidungen vertagt bzw. Untersuchungen unterlassen. Ressourcenknappheit (personelle, apparative, zeitliche) und ökonomische Zwänge verleiten den Arzt zur Anwendung von Erfahrungswissen bzw. Heuristiken. Heuristiken suggerieren oft eine Scheinsicherheit, die in manchen Fällen in Folge von Fehlentscheidungen zu tragischen Konsequenzen führen.

Kognition, Automatismen & Heuristiken

Urteilsheuristiken und kognitive Verzerrungen

Die Erkenntnisse aus der Psychologie haben uns zu verstehen gegeben, dass unser Denken nicht frei von Fehlurteilen ist. Daniel Kahnemann, US-amerikanischer Psychologe und Wirtschafts-Nobelpreisträger erforschte über Jahrzehnte menschliche Urteilsheuristiken und kognitive Verzerrungen. Gerd Gigarenzer, deutscher Psychologe und Direktor der Abteilung „Adaptives Verhalten und Kognition“ am Harding-Zentrum für Risikokompetenz des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, sowie viele weitere Psychologen haben die menschliche Urteilsfindung untersucht.
Grob vereinfacht beschrieben besteht gemäß Kahnemann unsere Denkfunktion aus zwei Denkmustern. Dem System 1 oder dem schnellen Denken, welches assoziativ, effizient und effektiv ist. Es sucht nach Mustern, Kohärenzen, verarbeitet Eindrücke schnell und macht Vorschläge. Es überzeugt zudem das System 2, welches i.d.R. diese Vorschläge annimmt. Das System 1 begibt sich häufig auf die Suche nach Ähnlichkeiten mit Stereotypien und tut sich schwer mit der Verarbeitung von statistischen Fakten. Dementsprechend ist das schnelle Denken sehr anfällig für systemische Fehler und im ständigen Konflikt zwischen Intuition und Logik. Das System 2 oder das langsame Denken baut auf logischem Denken auf. Es funktioniert langsam und ist oftmals anstrengend. Es erfordert Gedankenkonstruktionen und die Kombination von Informationen. System 2 benötigt viel Selbstkontrolle und Selbstreflexion und übernimmt bei erkennbaren, drohenden Fehlern das Kommando, indem es das System 1 überstimmt. Es ist schlichtweg das Gegenmittel für Fehlentscheidungen des System 1.

Heuristik–Fallen

Es liegt auf der Hand, dass Situationen mit hohem Handlungsdruck das Erzwingen schneller Lösungen durch Investition in einfache Lösungen begünstigt. Die langwierige unbequeme Suche nach nahezu sicheren Antworten und nach spezifischen, weil seltenen Lösungen, wird in Bevorzugung einer bequemen Antwort und „Routine-Lösung“ (Heuristik) aufgegeben. Die Antwort ist dann einfach, schnell aber möglicherweise falsch.
Verhaltensforscher haben eine Vielzahl möglicher heuristischen Verzerrungen und Ursachen für Fehlentscheidungen identifiziert. Einige Wichtige seien hier stichpunktartig aufgelistet.

Verfügbarkeitsheuristik

Nach dem Hammer – Nagel – Prinzip werden Diagnosen bevorzugt innerhalb des eigenen Beurteilungsrahmens gestellt. Der Rückenschmerz kommt für den Orthopäden von der Wirbelsäule, für den Internisten ist er ein Zeichen des Herzinfarkts und für den Gefäßchirurgen das pulsierende Aortenaneurysma. So bleibt jeder Arzt in seinem eigenen fachlichen Denkrahmen verhaftet, andere Möglichkeiten, außerhalb des eigenen Erfahrungsrahmens werden nicht berücksichtigt.

Affektheuristik

Emotionen wie Furcht, Zuneigung und Abneigung können Anlass für Fehlentscheidungen sein. Gut gelaunt und entspannt wird vermutlich dem anstrengenden Untersuchungsvorgang des Patienten eine intensivere Aufmerksamkeit geschenkt, als wenn man übermüdet, hungrig oder nach einem Streit mit einem Kollegen „ausgepowert“ sein Tagesprogramm abspult. In der Luftfahrt spricht man von folgenden 5 gefährlichen Grundhaltungen, die die Fehleranfälligkeit und Tendenz zu Regelverstößen deutlich erhöhen.
Es sind: Fehlende Reflexions- und Kritikfähigkeit, Impulsivität, Gefühl der Unverwundbarkeit, Macho-Gehabe und Resignation

Ankerheuristik

Dieser Priming – Effekt durch suggestive „plausible Hinweise“ führt dazu, dass der Arzt sich unwillkürlich nur auf einem bestimmten, eingeschränkten Bereich begrenzt (sich an einen Anker halten). So können z. B. aufgrund der Fehleinschätzung eines Notarztes bei der Einweisungsdiagnose wichtige Differentialdiagnosen erst gar nicht weiter verfolgt werden. So wurden z. B. die massiven Blutdruckschwankungen bei einem teils somnolenten Patienten vom Notarzt als Herzrhythmusstörung interpretiert und in der Klinik als solche weiter behandelt und das lebensbedrohliche dissezierte Aortenaneuryma lange Zeit übersehen.

Selbstüberschätzung (Selfconfidence) und Confirmation Bias

In diesem Fall werden den eigenen Entscheidungen und Handlungen meistens zu hohe Erfolgschancen zugeschrieben, während den Meinungen Anderer weniger Gültigkeit zugesprochen wird. Durch dieses übermäßige Vertrauen in die Richtigkeit der eigenen Entscheidungen können autoritätsbasierte Entscheidungen zu „strong but wrong decisions“ führen. Argumente für die eigene Entscheidung werden bevorzugt, Gegenargumente unter den Tisch gekehrt. Die Risiken der eigener Entscheidungen werden dabei ebenso unterschätzt bzw. ausgeblendet, die Risikobewertung fremder Entscheidungen fällt dagegen in der Regel hoch aus.

Konsistenzbestreben

Einem ähnlichen Mechanismus folgt das natürliche Bestreben konsistent mit einmal getroffenen (eigenen) Entscheidungen zu handeln. Kognitive Dissonanz wird möglichst vermieden und es besteht die Tendenz Informationen zu ignorieren, die nicht zum bisherigen Vorgehen („disconfirming evidence“) passen.

Framing

Die Art und Weise wie Informationen präsentiert werden, der Bezugsrahmen, hat großen Einfluss darauf wie diese Informationen interpretiert werden. Ähnlich der Ankerheuristik und dem Kontrastprinzip können dadurch neue Fakten und Informationen durch Setzen in einen fixen Kontext (Bezugsrahmen) verharmlost oder überbewertet werden.

Fehleranfälligkeit des menschlichen Gedächtnisses

Zu den Heuristiken kommt noch die Tatsache, dass das menschliche Gehirn fehlende Informationen und Erinnerungslücken ergänzt, ohne dass uns dies bewusst wird. In einer Studie konnte gezeigt werden, dass rund 70% der Befragten falsche Zeugenaussagen bei einer Täteridentifizierung machten. Fehlende Informationen und Erinnerungslücken werden schlichtweg mit falschen Erinnerungen gemäß eigener Plausibilitätsüberlegungen aufgefüllt. Das Gehirn greift hierfür besonders auf eigene Annahmen, Erfahrungen und unbewusste Vorurteile zurück. In ihrem kürzlich erschienen Buch „The Memory Illusion“ konnte die Psychologin und Kriminologin Julia Shaw aufzeigen, dass es durch eine manipulative Gesprächsführung möglich ist, einzelne Erinnerungen umzuformen und gänzlich in ihr Gegenteil umzuprogrammieren.

 

Das Shell Modell

In Erkenntnis und Akzeptanz der menschlichen „Schwächen“ im Sinne eines „errare humanum est“ wurde in den letzten Jahrzehnten das Shell – Modell entwickelt. Das SHELL-Modell zeigt den Menschen (Liveware Individuum) als zentralen Akteur in Interaktion mit dem Arbeitsumfeld, bestehend aus den Komponenten S (Software, z. B. Richtlinien, Verfahren), H (Hardware, z. B. Instrumente, Werkzeuge), E (Enviroment, z. B. finanzielle Bedingungen) und L (Liveware Team), den anderen beteiligten Individuen. Aus der Güte der Passung zwischen L, dem zentralen Akteur mit seinen psychischen und physischen Eigenschaften (wie z. B. Sensorik, Motorik, Informationsverarbeitung, Bedürfnisse, Befindlichkeit, Körpermaße) und den anderen Systemkomponenten resultiert letztlich die Effizienz der Arbeitsleistung.

Systemfaktoren und individuelle Faktoren

Die Herausforderung an das Krankenhausmanagement besteht deshalb gerade darin, das Arbeitsumfeld so zu gestalten, dass der Mensch darin sicher und möglichst fehlerfrei arbeiten kann. Bei der Anschaffung der Arbeitsmaterialien (Hardware) ist auf die Nutzerfreundlichkeit zu achten. Medizingeräte müssen verlässlich funktionieren und leicht zu bedienen sein. Das Arbeitsumfeld (Liveware Team) sollte stressfrei gestaltet sein, die Dienstpläne so konzipiert sein, dass ein ausgewogener Qualifikation-Mix aus erfahrenen und unerfahrenen Mitarbeitern gewährleistet ist, sowie alle notwendigen Kompetenzen vor Ort sind oder schnell hinzugerufen werden können. Die Prozesse (Software) müssen klar definiert, effizient und jedem klar vermittelt sein. Die Mitarbeiter müssen vor Überlastungen geschützt werden, das Arbeitsumfeld motivierend gestaltet sein und eine kontinuierliche fachliche und persönliche Weiterentwicklung ermöglichen. Langfristig ist auf die Etablierung einer hochwertigen Sicherheits- und Vertrauenskultur abzuzielen, die das Ergebnis ethisch korrekter Einstellungen und Verhaltensweisen ist.

Systematisierung der Entscheidungsprozesse

Fordec

Ein besonders hilfreiches Verfahren für gute Entscheidungsprozesse kommt aus der Luftfahrt. Idealer Weise sollten sich alle Mitarbeiter damit vertraut machen. Das FORDEC- Verfahren hilft dabei, Entscheidungsprozesse, insbesondere in zeitkritischen Situationen, systematisch abzuarbeiten und besteht aus 5 Schritten.

  • F  FACTS – Sammeln der Fakten
  • O OPTIONS – Prüfen der Optionen
  • R RISKS AND BENEFITS – Abwägen der Risiken und Vorteile
  • D DECISION – Zu einer Entscheidung kommen
  • E EXECUTION – Ausführen der Entscheidung
  • C CROSS-CHECK – Kontrolle, ob die Entscheidung zum erwünschten Ziel geführt hat
    und ggf. Korrektur der Entscheidung

Choosing Wisely Initiative

Die Stiftung des American Board of Internal Medicine (ABIM) verfolgt seit 2012 mit der mittlerweile weltweiten Aktion „choosing wisely“ (www.choosingwisely.org) einen kritisch hinterfragenden Ansatz auf der Suche nach der Ratio (Logik) medizinischer Entscheidungen. Nach den beiden Leitsätzen „weniger ist mehr“ und „Dinge, die wir ohne Grund tun“ werden die Mediziner aufgefordert, zu reflektieren, welche Entscheidungen wirklich auf medizinischer Evidenz und welche auf unreflektiertem, schnell verfügbarem „Routinewissen“ (Heuristiken) basieren, um dadurch unnötige Untersuchungen und Therapien zu vermeiden.

Fazit:

Da wir nie vollkommen sicher sein können, wo genau die (medizinische) Wahrheit liegt, tun wir gut daran, Sicherheitsmechanismen in unsere Prozesse einzubauen, die unsere Fehleranfälligkeit reduzieren und unsere Diagnosegenauigkeit sowie Therapie optimieren. Entscheidend ist es zu akzeptieren, welch bedeutende Rolle der Faktor Mensch dabei spielt. Nur durch den Einbau von Sicherheitsredundanzen, z. B. durch das regelhafte Einholen von Zweitmeinungen und durch die Methodik einer partizipativen Entscheidungsfindung, wie sie z. B. im Rahmen onkologischer Fallkonferenzen seit Jahren erfolgreich praktiziert wird, können wir sicherer und somit besser werden. Ein klinisches Risikomanagement berücksichtigt solche „soft skills“ und ermöglicht deren Integration in den praktischen Klinikalltag.

9 Grundsätze für bessere Entscheidungen

  • Bleibe stets selbstkritisch und reflektiere deine Entscheidungen und dein Handeln
  • Unterstütze eine effektive interprofessionelle und interdisziplinäre Teamarbeit
  • Etabliere lebenslanges Lernen in der Arbeit
  • Stelle sicher, dass Technologie dein Arbeiten unterstützt bzw. verbessert und nicht unsicherer macht
  • Sprich über deine Fehler und lerne daraus
  • Installiere ein Risikomanagement-System und analysiere die Systemschwächen der Organisation
  • Schaffe Anreize für ein ethisch basiertes Arbeiten und belohne die Ehrlichen
  • Stelle adäquate Ressourcen und ausreichend kompetentes Personal zur Verfügung, um die Arbeit qualitativ hochwertig und sicher verrichten zu können

 

Gerne unterstützen wir Sie bei Fragen zur Optimierung des Human Faktors Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Kontaktieren Sie uns unter Email: ae@euteneier-consulting.de

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Wie Mitarbeiter stressresistenter werden

Wie Mitarbeiter stressresistenter werden

Der richtige Umgang mit Stress

Der richtige Umgang mit Stress wird für den einzelnen Mitarbeiter immer bedeutsamer, die zunehmende Arbeitsverdichtung und Personalknappheit, gerade in klinischen Organisationen wird sich aufgrund des bestehenden wirtschaftlichen Drucks in absehbarer Zeit nicht ausreichend verbessern. Die Arbeitsbedingungen wie Zeitknappheit, breiteres Aufgabenspektrum, hohe Verantwortung und der omnipräsente Kostendruck können Überforderung und Burnout begünstigen, sie sind jedoch nicht die Ursache dafür. Ansonsten wäre ein Burnout aufgrund der genannten Faktoren bei jedem Mitarbeitenden früher oder später zu erwarten, dies ist Gottseidank nicht der Fall. Es gibt Menschen, die mit Stress und Belastungen besser umgehen können als andere.
Diese Fähigkeit des Umgangs mit Stress, auch Resilienz genannt, ist eine individuelle Kompetenz und lässt sich als solche auch entwickeln und trainieren. Für den Einzelnen wird es immer wesentlicher, sich um seine eigene Stressbewältigung aktiv zu kümmern. Wenn dies nicht geschieht, verstärkt sich der negative Kreislauf, führt weiterhin zu überlasteten Mitarbeitenden mit abnehmender Produktivität und Arbeitsausfällen, was wiederum durch die verbleibenden Mitarbeitenden abgefedert und kompensiert werden muss. Die jährlichen krankheitsbedingten Fehltage im Jahr 2016 betrugen 15,2 Tage pro Erwerbstätigem. (Quelle: TK-Gesundheitsreport 2017, Stichprobe von 7,3 Millionen Erwerbspersonen). Das Risiko einer Herzerkrankung wird durch ungeeignete Reaktionsweisen auf Stress (z.B. ungesunde Ernährung, weniger Sport, vermehrtes Zigarettenrauchen, schlechter Schlaf und höherer Alkoholkonsum) und durch Stress nachweislich noch weiter gesteigert. Stress gilt als Risikofaktor für Herz-Kreislauf Erkrankungen, der Zusammenhang zwischen Herzinfarkten und Stressbelastung ist seit Jahrzehnten bekannt. Die Anzahl der jährlichen Herzinfarkte ist immer noch sehr hoch, sie lag im Jahr 2016 in Deutschland bei 219.000 pro Jahr (Quelle: Deutsche Gesellschaft für Kardiologie). Die positiven Auswirkungen von Stress werden zwar immer reflexartig erwähnt und als natürliche Reaktionen des menschlichen Organismus beschrieben, diese sind jedoch im Vergleich zu den negativen und vor allem langfristigen Auswirkungen und Konsequenzen von Stress, äußerst gering.
Der in den letzten Jahren häufig beschriebene Begriff des „Burnouts“ ist als Endpunkt von diversen organisationalen Komponenten und individuellen Reaktionsmustern auf die Arbeitsanforderungen im Gesundheitswesen zu sehen. Für den bereits seit Jahren bestehenden, gravierenden Fachkräftemangel in der Pflege und den ärztlichen Berufen wird auf verschiedenen Ebenen nach Lösungen gesucht, bis es jedoch soweit ist, dass diese greifen, kann es noch viele Jahre dauern.
Daher braucht es ein höheres Maß an Eigenverantwortung und Eigeninitiative der einzelnen Mitarbeitenden, um geeignete Bewältigungsstrategien im Umgang mit Stress zu erwerben und für sich selbst individuelle Kompetenzen zur Stressbewältigung am Arbeitsplatz zu stärken. Diese können gelernt und trainiert werden, zahlreiche Ansätze und Methoden haben sich in Studien als effektiv erwiesen.

Ursachen hoher Stressbelastung:

Die zunehmende Überlastung der Mitarbeiter lässt sich auch in anderen Branchen, insbesondere in anderen sozialen Berufen erkennen, in Gesundheitseinrichtungen ist sie durch ein Zusammenwirken vieler negativer Faktoren jedoch besonders stark ausgeprägt. Zu den Hauptursachen tragen die organisationalen Arbeitsbedingungen bei. Gestiegene Flexibilitätsanforderungen, zu wenig Zeit für die Erledigung der einzelnen Tätigkeiten und permanenter Zeitdruck sind nur einige der Aspekte mit denen Mitarbeitende zurechtkommen müssen. Personelle Unterbesetzung und schlechte oder ineffiziente Arbeitsabläufe führen in Krankenhäusern in manchen Bereichen sogar dazu, dass an vielen Tagen keine oder nur stark verkürzte Pausen gemacht werden können. Dies stellt z. B. bei ärztlichen Tätigkeiten in den Notfallambulanzen von Schwerpunkt- oder Maximalversorgern nahezu den Normalfall dar.
Der ständige Zeitmangel führt zwangsläufig auch zu weniger zwischenmenschlichen Interaktionen am Arbeitsplatz, was meist in einer schlechteren Kommunikationsqualität resultiert. Dies kann sich als potentielle Fehlerquelle auch auf die Patientensicherheit auswirken und unnötige, weil vermeidbare Kosten nach sich ziehen.
Gerade Menschen, die in sozialen Berufen tätig sind, bringen häufig noch eine weitere persönliche Disposition mit, durch die es ihnen schwerer gelingt sich abzugrenzen und auf die eigenen Ressourcen zu achten. Der Wunsch, in einem sozialen Umfeld mit Menschen zu arbeiten, durch die eigene Tätigkeit anderen Menschen zu helfen oder sie zu unterstützen, birgt einen weiteren Risikofaktor für die stressbedingte Überforderung. Die Identifikation mit der Aufgabe und die gefühlte persönliche Verantwortung in der Patientenversorgung sind sehr hoch. Häufig sind es daher genau diese Mitarbeitenden, die sprichwörtlich auf ihrem Rücken, organisationale Defizite wie Personalknappheit, Ausweitung des Aufgabenspektrums, Übernahme fachfremder administrativer Tätigkeiten, kompensieren.
Zu den intrapersonellen Themen, die ein Risiko von psychischen Belastungsstörungen darstellen, gehören die zu geringen Entscheidungsfreiräume (Stichwort mangelnde Autonomie), und das hohe Maß an Fremdbestimmung insbesondere durch tätigkeitsfremde Vorgaben und überbordende Administration. Zu wenig Anerkennung und Lob für die geleistete Arbeit sowie mangelnde Wertschätzung im Umgang miteinander verringern die empfundene Zufriedenheit mit der Arbeit.
Wenn dazu noch die eigene hohe Anspruchshaltung (Innere Antreiber, z. B. sei perfekt, zeig keine Schwäche, usw.) und eine geringe Fähigkeit „Nein zu sagen“ dazukommen, ist das Risiko, in Richtung eines Burnouts zu steuern, sehr hoch.

Folgen hoher Stressbelastung:

Die mittel- und langfristigen Folgen der permanenten Überforderung von Mitarbeitenden haben Auswirkungen in drei Bereichen.

  • Persönliche
  • Ökonomische
  • Gesellschaftliche

Persönliche Auswirkungen

Unsere berufliche Tätigkeit ist zu einem wesentlichen Teil für unserer Lebensqualität mitausschlaggebend. Die Identifikation mit der eigenen Leistung und dem Inhalt der Tätigkeit bringen uns Freude und Sinnempfinden, es stärkt unseren Selbstwert und trägt dazu bei, unsere Identität zu formen und aufrechtzuerhalten.
Wenn diese Folgen ausbleiben oder sogar umgekehrt werden, indem wir unsere Arbeit als Quelle für Frustration und Erschöpfung erleben, können wir dies je nach Persönlichkeitstyp unterschiedlich lange kompensieren. Nachteilige Reaktionen und Symptome bleiben jedoch bei keinem Menschen aus. Sie setzen eventuell nicht in der gleichen Reihenfolge oder zum gleichen Zeitpunkt ein. Physische und psychische Erschöpfung führt zu innerem Rückzug bis hin zur inneren Kündigung. Zunehmend kann sich Gleichgültigkeit durch eine Abnahme von Empathie für andere entwickeln, beides eine Reaktion als Symptom von Überforderung.
Zu den körperlichen Reaktionen gehören verminderte Energie und Leistungsfähigkeit, andauernde Müdigkeit, Schwächung des Immunsystems und keine Kraft nach der Arbeit etwas zu unternehmen. Dadurch wird es unwahrscheinlicher, dass Stress durch positive Aktivitäten abgebaut werden kann und es zur notwendigen Regeneration kommen kann.
Unter den psychischen und kognitiven Reaktionen finden sich nachlassende Konzentration, Vergesslichkeit, eine verringerte innere Anteilnahme am Geschehen rings um einen herum, Gereiztheit, möglicherweise die Entwicklung einer Depression.
Zusammenfassend, es kommt zu einer abnehmenden Lebensqualität und verlorener Lebensfreude.

  • Kognitive Ebene: Denk- und Wahrnehmungsprozesse einschließlich deren Bewertung Selektive Wahrnehmung, verallgemeinern, katastrophisieren, Fatalismus
  • Emotionale Ebene: Gefühle und Befindlichkeiten Innerer Rückzug, Versagensangst, „keine Schwäche zeigen“, Gereiztheit, Sinnlosigkeit, Hoffnungslosigkeit
  • Körperliche Ebene: Unbewusste Reaktionen Vegetative und hormonelle Reaktionen z.B. Bluthochdruck, Ausschüttung von Cortisol Adrenalin, bewusste Reaktionen Muskuläre Verspannungen, Schwäche, Kopfschmerz, Müdigkeit, Schlafstörungen

Ökonomische Auswirkungen:

Kliniken und andere Organisationen im Gesundheitswesen müssen wie alle Unternehmen wirtschaftlich agieren, sie müssen Gewinne erzielen oder dürfen zumindest längerfristig keine Verluste erwirtschaften. Diesem Credo unterliegt jegliche Planung und Steuerung der Organisation. Dies zu negieren oder verändern zu wollen wäre nicht zielführend bzw. unrealistisch. Dennoch sollte stets mitberücksichtigt werden, dass die oben skizzierten strukturellen Mängel auf der Mitarbeiterebene, mittel- und langfristig zu deutlich erhöhten Kosten führen.
Der Kreislauf von schlechterer Versorgungsqualität aufgrund Stressbelastung führt zu Personalausfällen und Personalknappheit durch nicht besetzbare Stellen (wegen Fachkräftemangels oder geringer Attraktivität der Stelle), höherer Fehlerhäufigkeit bis hin zu Patientenschäden. Die daraufhin steigenden Haftpflichtprämien befördern zusätzlich die Kostenschraube.

Gesellschaftliche Auswirkungen:

Die Attraktivität der Berufe im Gesundheitswesen ist von hoher gesellschaftlicher Relevanz. Jedoch halten frustrierende Arbeitsbedingungen durch permanenten Zeitdruck und der hohen körperlichen Arbeitsbelastung durch Nachtdienste, hohe Verantwortung in Kombination mit einer geringen finanziellen Entlohnung zunehmend viele junge Menschen davon ab sich für diese Berufe zu entscheiden. Diese personellen Lücken können nur kurz- und mittelfristig durch die zunehmende Stellenbesetzung mit ausländischen Mitarbeitenden kompensiert werden, denn auch diese unterliegen denselben Risiken für Überforderung.

Möglichkeiten der Stressbewältigung:

Für Mitarbeitende ist die individuelle Prävention der wichtigste Ansatz um stressbedingten Folgen entgegenzusteuern und die eigene Widerstandskraft (Resilienz) zu erhöhen.
Selbstverantwortung ist hierbei die erste und wichtigste Botschaft.
Eine realistische Einschätzung der eigenen Belastbarkeit und die Kenntnis der eigenen Stressquellen sind die Basis für den Aufbau von Methoden zur Stressbewältigung. Diese ermöglicht, frühzeitig auf erste Warnzeichen stressbedingter Überforderung zu reagieren.
Es gilt, die Belastungsquellen zu identifizieren und Möglichkeiten zu kennen, die auch in Alltagssituationen anwendbar sind, um übermäßige Belastung zu vermeiden und sich zu regenerieren. Nur eine individuelle Stressbewältigung führt zu höherer Resilienz und diese muss tagtäglich stattfinden, es reicht nicht, sich Stressregeneration für den Urlaub aufzuheben.

WAS: Wahrnehmung der eigenen Empfindungen (Selbstwahrnehmung) WIE:  Geeignete Entspannungsmethoden und Regenerationsmöglichkeiten finden

WAS: Denkmuster überprüfen auf Lösungsorientierung (Selbstverantwortung) WIE: Kraftquellen und sinnstiftende Aktivitäten außerhalb der Arbeit finden

WAS: Realistische Einschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit WIE: Die eigenen Stärken und Potentiale erkunden und darauf fokussieren

WAS: Erkennen von Stressquellen und Reaktionsmustern WIE: Soziale Beziehungen stärken (Zeit reservieren für Freunde und Familie)

WAS: Aktiver Umgang mit Schwierigkeiten, Lösungsorientierung WIE: Optimistische Grundhaltung erlernen und lernen in der Gegenwart zu leben

Alltagstaugliche Strategien finden

Wie berechtigt Klagen über die Arbeitsumstände, die zunehmende Arbeitsverdichtung und den empfundenen Stress auch sein mögen, an der individuellen Belastung verändern werden sie nichts. Nur mit Eigeninitiative kann der Einzelne den negativen Auswirkungen etwas entgegensetzen.
Belastungen und überfordernde Situationen werden immer vorhanden sein. Dass neben der individuellen Prävention und der Arbeit an den eigenen Bewältigungsstrategien auf jeden Fall auch die Organisationen große Aufgaben zu bewältigen haben, ist selbstredend. Nur darauf zu hoffen, dass sich die Arbeitsbedingungen seitens der Organisation irgendwann optimal ausrichten werden, bringt jedoch nichts. Auf organisationaler Ebene ist in den letzten Jahren durch den Gesetzgeber einiges in Gang gesetzt worden, z.B. das Präventionsgesetz für die betriebliche Gesundheitsförderung, das seit Juli 2015 in Kraft ist und die Unternehmen verpflichtet, für ein Arbeitsumfeld zu sorgen, dass den Erhalt der Gesundheit fördert.
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/betriebliche-gesundheitsfoerderung.html
In erster Linie ist es eine eigenverantwortliche Aufgabe jedes Einzelnen, wirksames Selbstmanagement zu betreiben, gut für sich selbst zu sorgen, sich gesund und leistungsfähig zu erhalten. Es gibt dafür hilfreiche Strategien und Bewältigungsansätze, die gerade in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der individuellen Prävention gerückt sind. In diese Strategien sind Erkenntnisse und bewährte Ansätze aus der Stressforschung und der Depressionsbehandlung (z.B. MBSR Programme) eingeflossen. Dazu gehören Entspannungsverfahren wie autogenes Training oder progressive Muskelentspannung, Yoga, oder lediglich Übungen zum richtigen Atmen, Kurzmeditationen und Sport.

Mitarbeitende sollten sich unter professioneller Anleitung mit der eigenen Stressbewältigung auseinandersetzen und dabei eine individuelle, Resilienz fördernde Strategie entwickeln und üben diese konkret anzuwenden und im beruflichen Alltag beizubehalten. Dies kann in einem vom Arbeitgeber oder den Krankenkassen angebotenen Seminar oder Kurs zum Thema Stress und Resilienz gelernt werden. Bei der Auswahl eines Kurses sollte darauf geachtet werden, dass der Kursanbieter fachlich qualifiziert ist und einen ganzheitlichen und individuellen Ansatz nutzt. Kurse, die nur eine Methode propagieren oder nur eine Art der Stressbewältigung vorgeben, sind wenig nachhaltig, da sie vernachlässigen, dass Menschen sehr unterschiedlich reagieren und unterschiedliche Lösungsstrategien wirksam sind. Was für den einen Mitarbeitenden eine hilfreiche Methode darstellt kann bei dem nächsten wenig hilfreich bis kontraproduktiv sein, indem es Erfolgsdruck aufbaut und so eine zusätzliche Belastung darstellt. Es gilt, die eigenen Stressquellen und die eigenen Reaktionsmuster zu erkennen und dafür eine passende individuelle Strategie zu entwickeln.

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